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Journal 2019

Harry Graf Kessler - Das Tagebuch 1880-1937, Bd. 2 (1892-1897)

(27.12.2019) Die Lektüre dieses Bandes habe ich am 26.8. begonnen und am 27.12. beendet. Der Band beginnt mit der Weltreise Kesslers (Abfahrt am 26.12.1891) und endet mit der Rückkehr von der Mexiko-Reise im März 1897. Weitere Lebensstationen dieser Zeit sind die Promotion Kesslers in Leipzig, seine Militärzeit als Einjährig-Freiwilliger in Potsdam, sein Referendariat in Berlin und die Mitarbeit an der Kunstzeitschrift "PAN". Für Kessler war es offenbar früh klar, dass ein normaler Beruf für ihn nicht in Frage kam. Dank seiner finanziellen Unabhängigkeit konnte er sich voll in das Gesellschaftsleben stürzen, lernte ungemein viele Menschen kennen, hatte Dank seiner Mitarbeit an der Kunstzeitschrift sehr viele Kontakte zu Künstlern aller Sparten (Böcklin, Klinger, Liebermann, Munch, Dehmel, Verlaine u.a.), konnte Künstler durch Aufträge fördern und absolvierte daneben immer noch ein enormes Lektüreprogramm und ging in viele Theaterstücke und Konzerte. Seine Notate reichen von kurzen Protokollsätzen bis hin zu seitenlangen Beschreibungen und Beobachtungen.

Kessler-Tagebuch-Band-2-1892-1897

Es ist unmöglich, dem Buch mit Zitaten beizukommen - zu vieles ist interessant und bedenkenswert und müsste zitiert werden, fast auf jeder Seite habe ich Anmerkungen und Unterstreichungen hinterlassen. Wie im ersten Band ist auch hier die Einleitung (diesmal von Jörg Schuster) eine Fundgrube interessanter Themen und unbedingt lesenswert. Insgesamt ist das Buch eine sehr lohnende Lektüre.

Jens Rosteck: "Brel. Der Mann, der eine Insel war"

(02.12.2019) Das Buch ist mir bei der "Karlsruher Bücherschau 2018" aufgefallen. Es war "neu", was die Hoffnung nährte, dass der Autor auch neuere Quellen und neueres Material eingearbeitet hat, und es hatte die richtige Länge (etwas mehr als 200 Seiten) - mehr hätte ich zu Jacques Brel gar nicht lesen wollen. Ende November habe ich es in der Stadtbücherei ausleihen können.

Jans Rosteck, Jacques Brel

Bisher hatte ich kein großes Interesse an einer Biografie von Brel. Ich wusste, dass er irgendwann mit seiner Yacht zu den Marquesas segelte und dort begraben ist. Ich habe den ausgeschnittenen "Zeit"-Artikel vom 20.10.1978 anläßlich seines Todes noch heute irgendwo rumliegen, mit dem eindrucksvollen Porträtfoto des bärtigen, von der Krankheit gezeichneten Brel, der auf dieser Aufnahme eine große Ähnlichkeit mit dem alten und kranken Robert Louis Stevenson hat, der auch mit seiner Yacht in der Südsee unterwegs war.

Das Buch liest sich zügig. Es ist nett geschrieben und man merkt, dass der Autor sein Sujet liebt. Eine Biografie im engeren Sinn ist es nicht, dafür werden die Lebensstationen etwas zu flüchtig beschrieben. Umgekehrt ist das auch eine Stärke des Buches: Alles wichtige wie die verschiedenen Lebensphasen von Brel, die Musik, die Bühnenshow, die Rolle der Frauen, die Musik, die Texte und so weiter wird angerissen, einige Chansons analysiert; wer sich eingehender mit Brel beschäftigen will, der findet im ausführlichen Literaturverzeichnis dann genug Material.

Wieso wurde Brel so berühmt? Die Antwort von Rosteck ist einleuchtend. Brel änderte sein anfängliches hölzernes Image von Grund auf, fand ausgezeichnete Begleitmusiker, fand ausgezeichnete Komponisten und Arrangeure, feilte an einer extrem theatralischen Darstellungsform, die die Massen faszinierte. Das sagt sich leicht, aber die Grundlinien müssen eben stimmen, um den Durchbruch zu erreichen. Und wenn sich Brel als durchschnittlicher Gitarrist selber begleitete, dann war das halt weniger packend als die Begleitung durch einen virtuosen Akkordeonisten oder einen virtuosen Pianisten, die mit ihrem Instrument verwachsen sind.

Am Anfang hat mich die viele Lobhudelei gestört, der Autor schwärmt in den höchsten Tönen von Brel, auf den ersten Seiten schon findet man jede Menge Beispiele dafür:

"Brel war ein Gigant der Liedkunst. Sein Name ein Synonym für Musik, die erschreckend tief unter die Haut geht, und ebenso für eine Vortragsform, deren Wucht, deren bedingungsloser Hingabe man sich nicht entziehen kann."[S.10]

"Wie bei ihr [der Piaf] musste man die Texte nicht in Gänze verstehen, um ergriffen, erschüttert, bezirzt, amüsiert, gerührt oder mitgerissen zu werden."[S.10]

"Wer Brel auf der Bühne erlebte, wohnte einem Naturereignis bei."[S.10]

"Seine Performances glichen Box- und Stierkämpfen - es floss Blut, verbal zumindest, es flossen Schweiß und Tränen."[S.11]

Und so weiter. Aber irgendwann filtert man das weg. Und es ist ja schön, dass hier jemand so begeistert ist. Aber ob Brel wirklich ganz idealistisch nicht an Geld interessiert war? Rosteck schreibt:

"Finanzielle Meriten bedeuten ihm nichts. Geld töte den Traum, Geld kotze ihn an, hat er mehr als einmal bekundet. Geld flöße ihm Angst vor der eigenen Gier ein."[S.28]

So spricht man, wenn man genug hat. Wenn man - wie Brel - mehrere Flugzeuge (nacheinander) besessen hat. Sich eine große Segelyacht leisten kann. Wenn die immensen Kosten einer Panamakanal-Passage nicht erwähnenswert sind. Wenn man sich Delikatessen, Champagner, teure Weine nach Hiva Oa schicken lassen kann[S.154]. Wenn man Filme finanzieren kann. Wenn man eine topmoderne Kinoeinrichtung nach Hiva Oa liefern lassen kann und dort Filme vorführen kann[S.156]. Wenn man genug Geld hat, um alle Träume zu verwirklichen, die sich mit Geld bezahlen lassen. Dann kann man vielleicht sagen, dass einem Geld ankotzt, es den Traum tötet...

Seine Aussagen zu Frauen sind oft arg machohaft. Er spricht ihnen "erotische Großzügigkeit, die Bereitschaft zu authentischer Zärtlichkeit, die nicht von Vorteilsnahme gespeist ist, und gar Empfindungsfähigkeit ab."[S.85] "Er hält das weibliche Geschlecht für fantasielos und nüchtern, rein an Sachinteressen orientiert."[ebd] Rosteck meint dazu sicherlich zu recht: "Gemeinsamer Nenner solcher und ähnlich formulierter Aussagen ist bei Brel eine tiefsitzende Angst vor dem Nestbau. Für ihn gleichbedeutend mit Stagnation und Leblosigkeit.[S.86] Und deswegen bedeuten ihm intensive Freundschaften zu Männern mehr: "Freundschaft ... besitzt für ihn letzten Endes einen viel höheren Stellenwert als Liebe. Wie gesagt: Freundschaft zu Männern."[S.89]

Brels Lieblingskomponisten waren Schubert und Ravel. Er hörte fast ausschließlich klassische Musik, auch auf den Marquesas. Der Mittelsatz von Ravels Klavierkonzert in G-Dur war sein Lieblingsstück, in "Les Désespérés" wird es zitiert.

Manche Brüche in der Biografie bleiben etwas rätselhaft. Warum macht Brel einen so harten und theatralischen Schlußstrich unter seine Karriere als öffentlich auftretender Sänger? Wieso geht er von 300 Auftritten im Jahr auf 0 Auftritte im Jahr zurück? Wieso hätte er nicht eine Schauspielkarriere beginnen können und gleichzeitig weiterhin als Chansonier auftreten können, reduziert zwar, aber halt doch? Warum regt er sich so über die "Boulevard"-Presse auf, er, der als Künstler doch auch die Presse braucht? Sind ihm die Nachstellungen so ärgerlich, weil sie seine komplizierten Frauengeschichten noch komplizierter machen, weil jede seiner Frauen irgendwann kapiert, dass sie doch nicht die einzige ist, egal, was er ihr erzählen mag?

Die Fahrt mit seiner Segelyacht "Askoy" in den Pazifik und nach Hiva Oa hat einen romantischen Touch, im Detail allerdings ist manches etwas nüchterner zu sehen, auch mit vielen Verletzungen oder Demütigungen von Frauen verbunden. Der Angekommene segelt dann nicht mehr viel [S.156] und verhökert letztlich die Yacht im Dezember 1976 weit unter Wert[S.157] (nötig hat er das Geld ja nicht, es ist genug da). Das ist nicht die wahre Romantik.

Auch sein Inselleben hatte nicht viel mit "zurück zur Natur" und mit "sich-bescheiden" zu tun, dafür war Brel viel zu unruhig und getrieben - und anspruchsvoll geworden: er lebte da sehr komfortabel und upper-classig und bequem. Und wurde ziemlich dicklich.

Zum Schluß ein schönes Zitat:

"Wenn man nicht schön ist", konstatierte Brel nicht ohne Bitterkeit, "dann merkt man das sehr früh im Leben. Und dann hört man auf, sich selber für wichtig zu halten. Man merkt rasch, dass das Interesse, das man bei den anderen wecken kann, nicht in einem selbst begründet liegt, sondern in dem, was man tun, unternehmen und eventuell den anderen geben kann."[S.61]

G. Rosinski, J. van Hamme - Thorgal: "3. Die Greise von Aran"

(15.11.2019) Die ersten beiden dieser inzwischen auf über 30 Bände angewachsenen Serie habe ich 2017 gelesen, und wie bei diesen beiden Bänden angemerkt ist es auch hier: Würde ich nur diesen Band kennen, wäre mir die Serie gleichgültig. Immerhin, man spürt schon jetzt, dass die Qualität mit jedem Band besser wird, wenn auch einige ungelenke Szenen dabei sind. Die Story ist reine Fantasy, was nicht schlecht sein muss.

Thorgal, Greise von Aran

Highlights für mich sind einige großartige Panels mit der düsteren Burg im See und einige Schiffsbilder (Rosinski ist ein begnadeter Zeichner und Maler von Schiffen), daneben die beeindruckende Gestalt der "Wächterin der Schlüssel" mit ihren wadenlangen Haaren, welche allerdings recht unwahrscheinlich und total nervtötend immer ihre nackte Brust bedecken. Zum Glück legt sich das in späteren Alben, denn diese Figur taucht immer mal wieder auf. Die äußere Aufmachung des Hardcover-Bandes aus dem SPLITTER-Verlag ist vom Feinsten, da gibt es nichts zu kritisieren. Sicherlich werde ich noch einige weitere Alben dieser Reihe lesen.

Film "Ein Mann ohne Ufer. Hans Henny Jahnn".

(18.09.2019) Nochmal die schon am 15.07.2016 besprochene Dokumentation von Paul Kersten und Peter Rühmkorf zu Hans Henny Jahnn angesehen. Die technische Qualität dieses 1975 gedrehten Films ist gut (leider hat die Fassung auf YouTube furchtbare Kompressionsartefakte), aber vor allem inhaltlich ist der Film top. Und: Es kommen Zeitgenossen zu Wort und die Aufnahmen der Wohnorte von Jahnn wirken noch authentisch, z.B. sein Wohnhaus in Hamburg-Blankenese oder sein Wacholderareal im südlichen Wendland - jetzt, 44 Jahre später, sind die Originalschauplätze doch schon sehr verändert, und die meisten der Zeitzeugen sind tot, zumindest alle hier im Film vorkommenden.

Jahnns Hof Bondegard
Jahnns Hof Bondegard und sein Arbeitszimmer mit Plastiken von Franz Buse

Reinhold Grüning (ein "Jünger" und "Ugrino"-Mitglied, im Film ein älterer Herr), erzählt korrekt angezogen und in gewählten Worten in seinem aufgeräumten Wohnzimmer aus der gemeinsamen Zeit, hat Bücher vor sich und einen Blumenstrauss auf dem Tisch. Über die Diskussionen bzw die Gespräche mit Jahnn: "Da gab es keine Tabus", Jahnn sprach alles an, was mit dem Körper des Menschen zu tun hatte, die Offenheit war geradezu ein Sakrament.

Häufig kommt Signe Trede zu Wort, Jahnns 1929 geborene und 2018 verstorbene Tochter. Sie erzählt äußerst sympathisch, mit nachdenklichen Pausen, ohne Hektik und ohne gehetzt zu werden - ein wohltuender Kontrast zum heute verbreiteten Dauer-Geplapper. Sie überlegt sich, was sie sagt, spricht sorgfältig.

Sie erzählt über ihre unkonventionelle Mutter Ellinor Jahnn geb. Philips, die es fertig brachte, zu Gesellschaften im Hirschparkhaus ein oder zwei Stunden zu spät zu erscheinen, nackt. Ihr Vater habe es ihr etwas verschämt, zwar mit etwas Stolz aber verschämt "gestanden". Wie dieses "verschämt" zu jemanden passt, der "keine Tabus" kannte, der Offenheit als Sakrament hatte, das kann man sich schon fragen.

Mit kleinen Interviewausschnitten kommen noch zur Sprache Hans Erich Nossak, Peter Huchel und Axel Eggebrecht, und Yngve Trede (Jahnns Patenkind) spielt eine Orgelkomposition von Hans Henny Jahnn.

Eine sehenswerte Dokumentation, unter YouTube zu finden.

WDR 5 - "Zeitzeichen. Zum Todestag von Arno Schmidt"

(06.09.2019) Die Qualität von Rundfunksendungen ist oft erstaunlich hoch. Bei Aufräumarbeiten auf der Festplatte fand ich heute vom WDR 5 die mp3-Datei "Zeitzeichen. Zum Todestag von Arno Schmidt", gesendet am 03.06.2009. Die Sendung geht gerade einmal etwas mehr als 14 Minuten, aber nach zweimaligen Anhören muss ich sagen: Respekt! Über Arno Schmidt und sein Werk wird das Wesentliche gesagt, durchaus auch mit etwas ironischen Abstand. Immer mal wieder kommt der Germanist Marius Fränzel zu Wort, der offenbar speziell für diese Sendung interviewt wurde, und es gibt "O-Töne" von Jan Philipp Reemtsma, Hans Wollschläger, Ernst Krawehl, Martin Walser und natürlich Arno Schmidt selber, nebst einigen sehr kurzen Statements anderer Autoren zu Arno Schmidt. Die Musik scheint auch eine Auftragsarbeit speziell für diese Sendung gewesen zu sein.

Dirk Hempel - "Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie"

(28.08.2019) Nach der Lektüre von Kempowskis "Aus grosser Zeit" wollte ich mehr über Kempowski wissen. Dirk Hempels Biographie fand ich dafür bestens geeignet, obschon sie schon einige Jährchen auf dem Buckel hat und noch zu Lebzeiten von Kempowski erschien (2004). Kempowskis Leben, sein Kunstwollen, seine Werke und die zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedliche Rezeption werden vorgestellt. Die Fotos (alle recht klein und in schwarz-weiß) finde ich gut ausgewählt. Hier das Inhaltsverzeichnis.

Hempel, Kempowski-Biographie

Mir hat die Biographie viel gebracht und ich werde sicherlich etwas tiefer in das bisher von mir total vernachlässigte Werk Kempowskis eintauchen.

Anna Sam - "Die Leiden einer jungen Kassiererin"

(21.08.2019) Ein Spiegel-Bestseller - trotzdem (oder deswegen?) ein ziemlich flaches Buch ohne jegliche Überraschungen und ohne jeden Tiefgang. Man hat es in maximal drei Stunden gelesen und dabei nichts angekreuzt und nichts unterstrichen, kein gutes Zeichen.

Anna Sam, Leiden einer jungen Kassiererin

Der originale französische Buchtitel lautet "Les tribulations d'une caissière", da ist nichts von der "jungen Kassiererin", die dem deutschen Titel etwas Schlüpfriges verleiht.

Geschätzt drei Viertel des Textes befassen sich mit Erlebnissen, die wohl jeder macht, der mit Kunden zu tun hat, seien es Busfahrer, Call-Center-Mitarbeiter oder eben Kassiererinnen. Das meiste kann man auch beobachten, wenn man selber als Kunde ansteht. Und dass die Vorgesetzten in diesem Milieu nicht gerade die dollsten sind, das ist zu erwarten.

So richtig schlimm kommt mir das geschilderte Leben (oder Leiden...) als Kassiererin auch nicht vor, es gibt hässlichere Jobs. Wenn es unerträglich gewesen wäre, hätte die gute Frau Sam wohl auch kaum 8 Jahre als Kassiererin gearbeitet.

Ludwig Tieck - "Des Lebens Überfluss"

(23.06.2019) Auch wenn Tieck diese kurze Novelle für eines seiner "gelungensten Werkchen" hält - ich bin damit nicht warm geworden: Zu unwahrscheinlich ist alles, zu viel Süßholzraspelei findet statt, zu viel offensichtliche Allegorik ist reingebaut, zu viel "kreatives Schreiben". Und alles viel zu geschwätzig, zu viel Ballast.

Tieck, Des Lebens Überfluss

Die ganze Geschichte entwickelt sich für den Leser vom Ende her, auch die Details werden erst geschildert, indem der Bürgerliche Heinrich (der Held) mangels Büchern (die alle verkauft sind) in seinem Tagebuch zurückblättert, um die Genese ihre Zustands zu verstehen. Wie die beiden sich immer bestätigen, dass sie mit ihrer Liebe eigentlich alles haben, was sie brauchen, wie die winzigste Kartoffel deswegen zum Festschmaus stilisiert wird - das ist schlicht lächerlich und wird durch den Schluß der Geschichte konterkariert, wenn der adlige Vater von Clara ihr verzeiht und das ursprünglich verfolgte und geflüchtete Paar dann wie selbstverständlich in großem Reichtum lebt. Das als Idylle geschilderte Leben der beiden, das real ein Dahinvegetieren am Existenzminimum ist, mit der Aussicht, dass die endlichen Vorräte in naher Zukunft ganz verbraucht sind, wird so desillusoniert. Genau genommen enttarnt das Ende das Süßholzraspeln als das, was es ist: Als Schutzbehauptung, als Notlüge.

W.Belka (d.i. Walther Kabel) - "Auf den Vulkaninseln der Aleuten"

(22.06.2019) W.Belka ist eines der vielen Pseudonyme des Vielschreibers Walter Kabel (1878-1935). Laut Wikipedia verzeichnet die Deutsche Nationalbibliothek 495 Hefte und Bücher von Walther Kabel. Da er seine Texte teilweise im Wochenrhythmus ablieferte (oder laut Vertrag abliefern musste) ist klar, dass man keine hohen Ansprüche an die literarische Qualität der Texte haben sollte. Dass die Qualität allerdings so unterirdisch ist, hätte ich ehrlich gesagt trotzdem nicht erwartet.

Belka, Aleuten

"Auf den Vulkaninseln der Aleuten" beschreibt das Schicksal einiger Deutscher, die auf einem japanischen Schiff von Yokohama aus unterwegs nach San Franzisko sind. Während der Fahrt bricht der Erste Weltkrieg aus, und Deutschland und Japan befinden sich im Krieg miteinander. Die an Bord befindlichen Deutschen sollen deswegen als Kriegsgefangene einem japanischen Kreuzer übergeben werden. Der Funker outet sich als Deutscher und entwickelt einen Fluchtplan, der vieles nicht berücksichtigt, aber immerhin schaffen sie es bis auf eine Aleuteninsel, wo sie einige Wochen eine Roinsonade durchleben.

Man kann sich fragen, ob die Kriegsgefangenschaft so schlimm ausgefallen wäre, dass sie diese halsbrecherische Flucht rechtfertigt. Die Barkasse ist eigentlich zu klein für die Meeresgegend und die zurückzulegende Strecke, die Vorräte reichen nicht (was allerdings irgendwann keine Rolle mehr spielt), man muss auf drei gefangene Japaner aufpassen und so weiter und so fort. Das Büchlein strotzt vor Ungereimtheiten: Klar hat ein Vielschreiber nicht die Zeit, für sein Thema zu recherchieren, aber die hanebüchenen Fehler und die extrem unwahrscheinliche Handlung hätte ein Autor mit etwas "Factchecking-Ethos" nicht so stehenlassen. In kürzester Zeit werden zwei Steinhäuser gebaut (wie das Dach konstruiert wurde, wird nicht erklärt), man findet Tonerde und macht gleich Töpfe und Teller, man bastelt aus Metallbeschlägen Waffen, betreibt also Eisenverarbeitung und so weiter. In Ganzen erinnert der Text an Jules Vernes "Geheimnisvolle Insel", wo auch ein technischer Zivilisationsprozess durchlaufen wird, hier wie dort gibts einen Ingenieur, dem "nichts zu schwör" ist, allerdings liest sich das bei Jules Verne vernünftig, bei Belka / Kabel gehetzt und unmotiviert.

Bei der Lektüre extrem störend war die offen rassistische Sprache des Erzählers und der Handelnden. Es wird nur selten von Japanern geredet, es sind meist "Japse", "Gelbe", "gelbe Affen", "Fratzen".

Fazit: Ein Text, der die Lektüre nicht lohnt. Und auch als Jugendbuch kann man es wegen der rassistischen Sprache und der Herrenrasse-Attitude nicht empfehlen.

Engelbert Wittich - "Blicke in das Leben der Zigeuner"

(21.06.2019) Das Buch ist 1911 im Huß-Verlag, Striegau, erschienen. Wie schon der Untertitel "Von einem Zigeuner" betont: Der Autor Engelbert Wittich (1878-1937) ist selber Zigeuner. Seine Schilderungen des Lebens der Zigeuner, ihrer teils erstaunlichen Begabungen, ihr Leben im Wohnwagen und so weiter haben also den Anspruch, Berichte aus erster Hand zu sein, wobei die Gefahr besteht (wie R.Urban korrekt im Vorwort anmerkt), dass "das viele Anziehende, Liebenswürdige, geheimnisvoll Interessante" der Zigeuner von den auch vorhandenen "schwarzen Seiten des Zigeunerlebens" ablenkt.

Engelbert Wittich
Buchtitel und Selbstporträt von Engelbert Wittich

Ganz bewusst möchte Wittich nur über die deutschen Zigeuner berichten, denn nur diese kennt er. Über Zigeuner anderer Länder, besonders die aus Ungarn, berichtet er genauso negativ und mit Vorurteilen beladen wie jeder beliebige Zigeunerhasser - da kommt beim Lesen ein etwas mulmiges Gefühl auf. Beispiel:

"Aber die deutschen Zigeuner sind keineswegs ein so müßiges, faules Volk, wie gewöhnlich kurzerhand angenommen wird; man darf sie in dieser Beziehung nicht mit den Zigeunern anderer Länder vergleichen."

Andererseits: Auch die deutschen Zigeuner bekommen etwas Kritik ab. In leichtem Widerspruch zum vielen Lob schreibt Wittich nämlich:

"Betteln, Landstreichen, wenn man ihre unbezwingbare, angeborene Wanderlust so nennen mag, gelegentlicher Diebstahl und kleinere Betrügereien mag man ihnen schließlich mit Recht nachsagen."

Das Büchlein "Zwei Zigeuner, schwarz und gräulich" von Wilhelm Solms (vorgestellt am 20.04.2019), welches eine durchaus romantisierende Darstellung des Zigeunerlebens bietet, streitet gerade diese "unbezwingbare, angeborene Wanderlust" ab und stilisiert die Zigeuner zu Opfern, zu ständig Vertriebenen. Wem glaubt man nun mehr? Einem Zigeuner? Oder einem akademischen Text?

Über weite Strecken ist das Büchlein in einem kindlichen Ton geschrieben, in einer einfachen Sprache, mit vielen Wiederholungen und nervtötend vielen Beteuerungen. Ob alles wirklich auf Beobachtung beruht oder nicht vielleicht doch auf Halbwissen - lassen wir es dahingestellt. Folgende Aussagen kommen mir schlicht klischeehaft vor:

"Man sieht und fühlt deutlich, dass der Zigeuner ein geborener Musiker ist."
"Ohne Geige kann man sich überhaupt keinen Zigeuner vorstellen."

Was ist mit den vielen Gitarristen? Oder den Spielern anderer Instrumente?

Viele teils seltsame, teils erschreckende Gebräuche werden geschildert, hier ein Absatz zu den "leichteren Vergehen", samt der dafür verhängten Strafe:

"Außerdem ist bezw. wird »baledschido« (leichtere Vergehen), wer Hundefleisch, Pferde- und Katzenfleisch ißt, ja wer nur aus einem Hafen, Schüssel usw. ißt, wo solches nur darin war bezw. darin gekocht wurde, ebenso wer aus einem Gefäß ißt oder trinkt, welches von einer Zigeunerin mit dem Rock berührt, gestreift, über das sie etwa hinweggestiegen ist. Solche Gegenstände müssen, wenn auch noch so nagelneu, sofort vernichtet werden, natürlich auch das darin gekochte. Praßen (Beschimpfen) auf seine Tote, auf des Praßenden Frau – ohne Abwehr macht baledschido. Baledschido wird, wer während der Periode zu seiner Frau liegt und überhaupt solche Vergehen gegen die Schamhaftigkeit in und außer der Ehe, z. B. Besuch von Prostituierten, Onanie usw. treibt. Schwere Vergehen, wofür oft für immer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, geächtet und verachtet wird, sind Sittlichkeitsvergehen, widernatürliche Unzucht, Kindesmord usw. Die Strafe des baledschido besteht darin, daß ein solcher auf bestimmte Zeit oder zeitlebens von aller Gemeinschaft, Verkehr usw. der übrigen Zigeuner ausgeschlossen, verstoßen, geächtet ist.

Haarsträubende Sachen also: Ein Gefäß, welches von einer Zigeunerin mit dem Rock berührt wird, muss sofort vernichtet werden - das ist so abstrus, dass man der Schilderung kaum glauben möchte. Albernheiten wie nicht mit einer Frau zu schlafen, die gerade ihre Periode hat, oder nicht zu onanieren - das ist die übliche Folklore irrationaler Gesellschaften.

Die "Frau als Gefahr" spielt auch bei vielen Gebräuchen in und um den Wohnwagen eine Rolle. Weils so schön ist, hier ein längeres Zitat:

"Der Gebräuche im Wohnwagen sind viele, von denen nur einige hier angeführt werden können. Eine Geburt im Wohnwagen darf nicht erfolgen, d. h. in keinem von ihren Wagen darf geboren werden. Ausgenommen eine Fehlgeburt, welche nicht als Geburt, sondern nur als eine Krankheit angesehen wird. Findet dennoch einmal eine Geburt im Wagen statt, so muß derselbe verkauft werden. Er darf von keinem Zigeuner mehr benützt werden. Ebenso dürfen alle darin befindlichen Gegenstände (ausgenommen die Kleidungsstücke) wie z. B. Koch- und Eßgeschirr, auch Löffel, Gabeln usw., Trink-, Eß- und sonstige Lebensmittel nicht mehr benützt werden. Das Bett, worin die Geburt vor sich ging, muß verkauft oder vernichtet werden. Wer irgend eine der angeführten Sachen dennoch wieder gebraucht, wird baledschido und zwar zählt solches zu den leichteren Vergehen. Dennoch wird diese Sitte streng durchgeführt. Gewöhnlich erfolgt eine Geburt unter dem Wagen, in einem Schuppen, Scheune oder dergl. Oder auch ganz im Freien, im Wald, hinter einem Gebüsch usw., auf einem primitiven Lager. Großer Vorbereitungen bedarf es hierzu nicht. Alte Kleider, ein Teppich genügen zum Lager, selten wird ein Bett benützt. Im Winter z. B. wird auch hie und da ein Zimmer gemietet auf ein paar Tage. Treten aber Umstände ein, wo doch im Wagen geboren wurde, so werden dann alle Gebrauchsgegenstände usw., um wenigstens diese zu retten, aus dem Wagen entfernt und wenn es eilt, nur noch hinausgeworfen. Alles was heraus ist aus dem Wagen, darf nachher wieder gebraucht werden. Nach der Geburt darf der Wagen dann gleich benützt werden, d. h. Mutter und Kind werden jetzt in denselben aufgenommen. Nach 2 Tagen, höchstens 3 hat sich eine Zigeunerin erholt und geht wieder ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nach! Von der Geburt bis zur Taufe darf von den männlichen Zigeunern, auch der Vater nicht, im Wagen wo die Kindbetterin ist, etwas gegessen oder getrunken werden. Nur was außerhalb des Wagens gekocht wird! Auch darf man das Kind nicht berühren, z. B. auf den Arm nehmen oder küssen."

In der folgenden Passage zeigt sich wieder, wie gefährlich weibliche Wäsche ist (immer nur die weibliche, wohlgemerkt):

"Im Wohnwagen darf weibliche Wäsche, Hemden, Unterkleider nicht aufgehängt werden, z. B. auch nicht zum Trocknen. Würde ein männlicher Zigeuner an solch einen Gegenstand stoßen, ihn mit dem Kopf berühren, so wäre er unbedingt infam, d. h. baledschido (unehrlich). Auch dürfen keinerlei Eßwaren, welche mit solch einem weiblichen Bekleidungsstück in Berührung gekommen sind, vielleicht durch Einwickeln oder Darauflegen, gegessen werden. Ausgenommen solche, welche nicht direkt in eine solche Berührung gekommen sind, entweder in einem Gefäß oder wenn es gut eingewickelt war, z. B. Getränke in einer Flasche oder Glas. Bei Wäschestücken von männlichen Zigeunern ist solches aber nicht der Fall."

Interessant fand ich noch diese beiden Aussagen zum Lieblingsessen der Zigeuner:

"...die Igel (bekanntlich die Lieblings- und Nationalspeise der Zigeuner)"
"einem fetten, delikaten und appetitlichen Hinterfuß (Hinterschinken) von einem Igel (die größte Delikatesse für einen Zigeuner)

Da kommt man ins Grübeln, ob da nicht einer seinen Scherz mit einem treiben möchte. Ein seltsames Buch also, auf eine gewisse Art aber nicht uninteressant.

Da ich das Buch als E-Text gelesen habe, kann ich keine Seitenzahlen für die Zitate angeben.

Nachtleuchtende Wolken (noctilucent clouds)

(13.06.2019) Im Norden schöne Nachtleuchtende Wolken zu sehen, einige Aufnahmen gemacht.
Kamera: EOS 450D
Blende 4,5, Brennweite 34 mm
Belichtungszeit 15 sec
ISO 400 ASA
Sonne: Höhe -15,9 Grad, Azimuth 344 Grad

Beobachtungsort: Heidelberg
Beobachtungsbedingungen: ausgesprochen klar, sehr gute Fernsicht
Uhrzeit: 21h20 UT
Richtung: Azimut 346 Grad bis 32 Grad
Höhe über dem Horizont: 9,3 Grad
Helligkeit: 4
Formen: Typ IIa, Typ IIb, Typ IIIb, Typ IVb

NLC, 13.06.2019
NLCs am Abend des 13.6.2019, 21h20 UT (23h20 Sommerzeit), Ausschnitt.
Größer

Gemälde "Zigeunertrio" fertig

(07.06.2019) An diesem Bild habe ich lange gemalt, seit Dezember 2018, und allmählich wurde ich ungeduldig. Nun ist es endlich fertig bzw in einem Stand, den ich beenden kann. Der ursprüngliche Arbeitstitel lautet "Zigeunertrio", aber es ist offensichtlich anderes daraus geworden. Dennoch behalte ich den voräufigen Titel nun auch als endgültigen Titel bei.

Zigeunertrio
Zigeunertrio, 2019, Öl auf Hartfaser, 60 cm x 80 cm

Lukas Bärfuss - "Hagard"

(01.05.2019) Nach zwei abgebrochenen Versuchen, das Buch zu lesen, schließlich beim dritten Anlauf in einem Rutsch durchgelesen. Den Anfang fand ich so kitschig, dass er mir richtiggehend einen Unwillen erzeugte. Beispiel: Wenn die Erzählinstanz davon spricht, dass sie von den Erscheinungen "einige Male an den Rand des Wahnsinns geführt" wurde, dann tut mir das fast weh. Aber wenn man diese Anfangs-Durststrecke überwindet, dann wird das Buch richtig gut.

Bärfuss, Hagard
Lukas Bärfuss - "Hagard"
btb Verlag, 2019. 173 Seiten

Die ganze Geschichte beginnt damit, dass einer eine Frau sieht, nicht so recht, aber ausreichend genug, um fasziniert zu sein, sie ohne es zu wollen verfolgt, dann bewusst verfolgt, dann abtriftet und schließlich beim Versuch, am nächsten Tag in ihre Wohnung zu kommen sich an den zerbrochenen Fensterscheiben tödlich verletzt.

Warum macht er das? Dafür gibt es keine Erklärung. Dass man über die Motive der Menschen und die Geschichte dieser Menschen eigentlich wenig weiß, wird an einem Gottfried-Keller-Zitat festgemacht (aus dem "Grünen Heinrich, Lob des Herkommens):

"...schon vor 160 Jahren hat man an anderer Stelle über die Menschen hier festgestellt, dass sie allerlei wunderliche Geschichten und Legenden mit der größten Genauigkeit erzählen können, ohne zu wissen, wie es zugegangen sei, dass der Großvater die Großmutter nahm."[S.17]

Der Blick dieses (Anti-)Helden auf die Menschen wird schnell immer böser und verletzender, dazu einige nette Zitate.

Beim Warten auf sein Faszinosum beobachtet er kurz eine Kassiererin:

"Und er sah eine pummelige Kassiererin in der Zigarettenpause, sah ihre talkige Haut und fühlte ihr unerfülltes Begehren, von dem sie nur ein schlecht manikürter Finger, ihr eigener, kurzzeitig erlösen würde; ..."[S.24]

Ist der (Anti-)Held zu verurteilen wegen seiner Obsession? Nein, manchmal braucht es unangepasstes Verhalten:

"Und abgesehen davon braucht jede Begegnung eine erste Missachtung der Linie, die der Anstand um den Menschen zieht. Wer nur küsst, nachdem er dazu aufgefordert wurde, und wer nur geküsst wird, nachdem er sein Einverständnis gegeben hat, der wird niemals küssen und niemals geküsst werden. Wer etwas von der Welt erfahren will, einen Zugang zu den verborgenen Geheimnissen gewinnen, der muss durch die Tür gehen, unaufgefordert, er kann nicht warten, bis er die Erlaubnis erhält. Keine Geschichte, schon gar keine Liebesgeschichte, kommt ohne Übertretung aus. Keine Eroberung ist erfolgreich ohne die Anmaßung."[S.26]

Nach einer nahezu durchwachten Nacht ist er fertig und fühlt sich weit weg von den Menschen:

"Gestern war er einer wie sie, heute verachtet er die Menschen. Er ist getrennt von ihnen und wird nie zu diesem Zug gehören. Sie glauben sich in Konkurrenz, einer zum anderen, und dieser Glaube treibt sie an, in Wahrheit dienen sie der einen, gleichen Sache, einer Sache, die für ihn verloren ist. Noch nie hat er sie so gesehen. Sie sind satt, aber sie schlafen noch. Sie schlafen immer. Er ist ausgehungert, ja, übernächtigt, blank, nass, aber er ist wach. Wach für den leisesten Ton, für das schwächste Licht, für die größte Nebensächlichkeit."[S.88]

Als die Umwelt ihn bei der Verfolgung des Mädchens zu stören beginnt, wird sein Blick auf diese störende Welt vollends bitterböse:

"Ein Typ mit einer Frisur wie nach einer Hirnoperation steigt ein."[S.92]
"Im Zug ein Geruch nach Kot und Plastik, eine Mischung aus Hightech und Schweinekoben."[S.92]
"Ein Graumelierter mit engem Hemd und Hornbrille, ein Gezücht aus der Kreativbranche."[S.92]
"Er hat Lust, diesem Kothaufen einen Kugelschreiber durch die Ohren zu drehen, und zwar quer durch die Birne. Dann wird man sehen, ob ihm seine dauerlaufgestärkte Brust und das weibische Rindsledertäschchen zu Hilfe kommen."[S.92]
"Jedenfalls übernimmt die Amygdala und schaltet den Mann auf Flucht."[S.93]

Im Zug zurück nach Zürich trifft dieser Menschenhass einen Kontrolleur:

"Ein übler käsiger Vielfraß steckt darin, die Backen fett wie Schweinsärsche."[S.93]
"...diese formlose Karikatur..."[S.93]
"...wenn nicht dieser Gestank in der Nase stechen würde, dieser säuerliche, durchgefurzte, genässte Filzgeruch, faulig, von den Sohlen aufsteigend, Schweiß und Tod, als hätte der Mann Kadaver zu schichten."[S.96]

Als er die Gelegenheit hat, die Frau von vorne zu sehen, endlich ihr Gesicht zu sehen, macht er es nicht:

"Aber du kannst nicht. Du hast Angst. Angst vor ihrem Blick. Dass sie es nicht wert war. Die letzte Nacht. Die Verfolgung. Solange sie ein Geheimnis bleibt, so lange kannst du glauben. Wenn du ihr Gesicht siehst, wirst du alles wissen und nichts mehr erfahren. Du wirst ihr Gesicht entschlüsseln. Du wirst deuten. Und wenn du deutest, dann siehst du nicht mehr. Du wirst wissen, was sie denkt. Wie sie die Welt anschaut. Du wirst verstehen, aber du wirst nicht mehr sehen. In allen Dingen muss ein Geheimnis bleiben, das uns zum Sehen bringt. Was wir verstanden haben, ist verloren."[S.105]

Zum guten Schluss:

"Blöde Visagen bleiben blöd, da gibt es nichts zu machen."[S.106]

Jochen Klauß - "Charlotte von Stein. Die Frau in Goethes Nähe"

(29.04.2019) Unter verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet Jochen Klauß das Leben der Charlotte von Stein und ihre Beziehung zu Goethe. Folgende Themen behandelt er: Legende; Herkunft; Erscheinungsbild; Charakter; Familie; Vertraute Goethes; Domizile; Arbeitsplatz; Freizeit; Freunde; Nachruhm. Das Buch ist sehr sachlich und versteigt sich nicht in gewagte Spekulationen. Es erhellt vieles zum Hofleben und zu wichtigen Persönlichkeiten im Umkreis der Stein, was man sonst eher nicht so konzise zusammengefasst findet. Mir hat die Lektüre des Buchs viel gebracht, es gab keine langweiligen Passagen. Charlotte von Stein hat viel erlebt, auch viel schlimmes. Sie hat sich wacker geschlagen, denn auch der Alltag am Hof war nicht so einfach, denn der Personenkreis dort war

"...ein schier undurchdringliches Knäuel von divergierenden, sich kreuzenden politischen, persönlichen und sonstigen Interessen, Neigungen und Zielsetzungen - die Hauptursache für jenen bereits angedeuteten permanenten Stellungs- und Grabenkampf der beteiligten Personen, hinter denen in der Regel noch ein versorgungshungriger Familienclan, eine Legion postensuchender Freunde und Protégés in Lauerstellung lagen."[S.207]

Klauß' Urteil über das Leben der Stein ist letztlich zuzustimmen:

"Sieht man ab vom Leben des großen Dichters [Goethe], tut sich vor unserem Auge ein würdevoller Lebensgang auf, der tiefen Respekt verdient."[S.85]

Humor konnte sie trotzdem haben: Ihr Vorschlag für die eigene Grabschrift, 1811 an Knebel geschickt, hat was:

"Sie konnte nichts begreifen, die hier im Boden liegt,
Nun hat sie's wohl begriffen, da sie sich so vertieft."[S.81]

Jochen Klauß, Charlotte von Stein
Jochen Klauß - "Charlotte von Stein. Die Frau in Goethes Nähe"
Zürich: Artemis & Winkler, 1995. 317 Seiten.

Liest man die abgedruckten Originalbriefe aus der Zeit nach dem Bruch mit Goethe, mit den Klagen, mit der Wut, dann kommen einem Behauptungen wie die, dass Charlotte von Stein nur eine Strohfrau gewesen sei, um Goethes Beziehung mit Anna Amalia zu decken, doch sehr gewagt wenn nicht gar abwegig vor. Besonders intensiv und innig war die Beziehung zu Goethe ab 1781. Aber läuft eine Liebesbeziehung tatsächlich so ab, wie von Klauß angedeutet, muss immer eine Steigerung her? Ich glaube nicht:

"Ab 1781 scheint eine Steigerung des Liebesverhältnisses, eine Weiter- und Höherentwicklung dieses Verhältnisses nicht mehr möglich. Wo Stagnation eintritt, ist der Anfang vom Ende vorgezeichnet. Was hätte noch eintreten, was noch vollzogen werden können?"[S.163]

So sympathisch sie über lange Strecken erscheint: Die Ungleichbehandlung ihrer Söhne stört den Eindruck doch sehr: Gerade Karl von Stein, ihr ältester Sohn, musste einiges an Ungerechtigkeiten schlucken.

Schließlich noch eine sehr schöne Stelle von Goethe über die Bedeutung des Briefschreibens, die ich gut nachvollziehen kann:

"Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre innersten Gesinnungen mitteilen, und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch. Denn oft wird ein Freund, an den man schreibt, mehr der Anlass als der Gegenstand eines Briefes."[aus: Winckelmann und sein Jahrhundert; hier: S.100]

Dieter Borchmeyer hat 1995 das Buch von Klauß in einer lesenswerten Rezension in der FAZ vorgestellt. Ich habe das Buch damals in einer sehr guten aber nicht mehr existenten Heidelberger Buchhandlung spontan gekauft und jetzt noch einmal gelesen.

Wilhelm Solms - "Zwei Zigeuner, schwarz und gräulich"

(20.04.2019) Ein schmales Bändchen, gerade einmal 134 Seiten. Ich habe beim Kauf schon etwas geschluckt, dafür 18,80€ auszugeben. Unter den Hauptüberschriften "Tsiganologische Beschreibungen", "Kriminalisierung des Fahrenden Volkes", "Dämonisierung der Zigeuner", "Bestialisierung des orientalischen Nomadenvolks", "Romantisierung von Zigeunerinnen und Zigeunern", "Randexistenzen" und "Das lustige Zigeunerleben" listet Solms insgesamt "36 Eigenschaften der deutschen Literaturzigeuner" auf, die er durch Zitate belegen kann. Mit fortschreitender Lektüre wurde mir doch etwas unwohl: Solms geht mit einem beachtlichen Furor gegen alles vor, was auch nur im entferntesten als Diskriminierung interpretiert werden könnte. Dabei wird jedes gefundene Zitat direkt als Meinungsäußerung des armen deutschen Dichters gewertet und führt zu dessen Verurteilung. Welche literarische Figur in den jeweiligen literarischen Texten aus welcher Ursache was über dieses Volk sagt, welches man sich aus p.c. kaum noch traut zu benennen, das scheint keine Rolle zu spielen. Beispielweise gehen Tiervergleiche gar nicht: Im martialisch benannten Kapitel "Bestialisierung des orientalischen Nomadenvolks" findet sich die Eigenschaft "22. Tiervergleiche". Hier werden Vergleiche beanstandet wie "eine junge, schlanke Pantherkatze", "wilde Katze", "mit der Kraft und Schnelligkeit des Hirsches". Vielleicht sollte Solms auch mal Liebespaaren auf den Mund schauen, welche (Achtung: Ironie) unreflektiert empörende Tiermetaphern beim Säuseln verwenden.

Wilhelm Solms, Zwei Zigeuner
Wilhelm Solms "Zwei Zigeuner, schwarz und gräulich. Zigeunerbilder deutscher Dichter"
Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt am Main, 2018. 134 Seiten.

Solms mag über weite Strecken mehr oder weniger Recht haben, oft schiesst er aber über Ziel hinaus und stilisiert dieses Volk, dass noch nicht einmal "fahrendes Volk" genannt werden darf, weil es ja eigentlich seßhaft ist und nur immer wieder vertrieben wird, er stilisisiert dieses Volk also zu einem Muster an Harmlosigkeit, Gutmütigkeit, Ehrlichkeit, Familiensinn und so weiter. Sind sie anders, wurden sie von der Umwelt so gemacht. Das Buch könnte man fast als ein Produkt der im Kapitel "Romantisierung von Zigeunerinnen und Zigeunern" beschriebenen Romantisierung betrachten.

Gekauft habe ich das Buch eigentlich, weil ich ein großer Fan der Filme von Tony Gatlif bin, dem Sohn einer Roma, in dessen Filmen Sinti und Roma häufig die Hauptrolle spielen. Und ich liebe diese Filme und diese Figuren...

Michel Houellebecq - "Ausweitung der Kampfzone"

(10.03.2019) Schneller als gedacht habe ich doch noch einen zweiten Text von Houellebecq gelesen, diesmal vom anderen Ende des Zeitstrahls: Nach dem aktuellen "Serotonin" (2019) nun das schon 1994 in Frankreich erschienene "Ausweitung der Kampfzone".

Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone

Inhaltlich hat man ein Deja vue: Auch hier wieder eine Hauptperson, die dies und das treibt, nette Beobachtungen an Menschen und Dingen, aber eben auch wieder eine Hauptperson, die krank wird, eine Depression entwickelt, äußerlich und innerlich auf dem absteigenden Ast sitzt. Ab der zweiten Hälfte war die Handlung berechenbar, ich empfand bei der Lektüre immer mehr Längen, schlimmer noch: Das Schicksal des Protagonisten war mir ziemlich egal, da nicht zur Identifikation einladend.

Ein nicht eigentlich schlechtes Buch, aber es gibt eben deutlich bessere...

Michel Houellebecq - "Serotonin"

(17.02.2019) "Serotonin" ist das erste Buch, welches ich von Michel Houellebecq gelesen habe. Bisher wusste ich von Houellebecq nur, dass es sich um einen "Skandalautoren" handeln sollte - was ich für mich übersetzte als: Das ist ein Autor, zu dessen Marketingstrategie es gehört, mit einigen Themen zu provozieren, aber nicht zuviel - man will schließlich gleichzeitig Bestseller-Autor sein. Dieses Vorurteil hat mich lange Zeit davon abgehalten, an die Lektüre zu gehen.

Houellebecq, Serotonin

Jetzt, nach der Lektüre, würde ich sagen: Es macht durchaus Spaß, ihn zu lesen. Die Lektüre ist kurzweilig, eigentliche Durststrecken gibt es nicht (wobei der Text auch nicht länger sein dürfte). Eine reichlich überdrehte Hauptperson überdreht ganz, schrammt am Suizid und an einem Mord vorbei, es gibt etwas Sex, etwas psychische Gewalt, gute Beobachtungen (was immerhin für eine gute Portion Empathie sprechen könnte), und - leider - viel Gejammer. Die Krankengeschichte des Helden mag gut erzählt sein, trotzdem behagt mir zuviel Wehleidigkeit nicht, das habe ich in der Realität genug.

Der Stil, die Themen (ausser der Wehleidigkeit) haben mich an die Rabbit-Romane von John Updike erinnert, auch an dessen "Gottesprogramm". Updike seziert in diesen Romanen gekonnt die amerikanische Gesellschaft und Befindlichkeit über einige Jahrehnte hinweg und ist dabei ein gnadenloser Beobachter des Alltags. Seine Analysen sind in meinen Augen aber treffender, vielseitiger, unterhaltender als die von Houellebecq.

Ich habe es zwar nicht bereut, "Serotonin" gelesen zu haben, aber ob ich noch etwas von Houellebecq lesen werde: Keine Ahnung.


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