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Notizen, Zitate und Bilder zu Theodor Storm: "Renate"

Zu Storm:

Theodor Storm und Gottfried Keller (und natürlich auch Stifter, Raabe, Fontane) sind - da zur Schullektüre für die Mittelstufe herabgesunken - meist unterschätzt. Es wäre schon interessant, wieviele Storm-, Keller- usw -gestresste nach einigen Jahren sich an diese Lektüre erinnern und nochmal einen Versuch mit den Autoren wagen. Löst man sich von den Vorurteilen, die die Schullektüre in einem festgesetzt hat, und liest ihre Werke einigermaßen unvoreingenommen, zeigen sie plötzlich ganz moderne Züge. So wurde mir der "Grüne Heinrich" auch bei der dritten Lektüre nicht langweilig, und von Storm braucht man auch nur ein kleines Reclam-Bändchen in die Hand zu nehmen, um nach Belieben in reichlich tiefe Abgründe einzutauchen - Beispiel: "Renate".
St. Jürgen, zur Novelle Renate von Theodor Storm
Hans Brüggemann: "Der Ritter St.Jürgen im Kampf mit dem Drachen" (um 1523). Reiterstandbild, früher in der Marienkirche in Husum (heute im Nationalmuseum in Kopenhagen). Auf dieses Standbild muß sich der junge Josias retten, als er nachts allein in der Kirche eingesperrt ist, und der Hund des Küsters in die Kirche gelassen wird und ihn anfällt.
Aus: "Theodor Storms Welt in Bildern. Eine Bildbiographie", Heide in Holstein 1987, S.147

Theodor Storm dürfte aus der Riege der sogenannten "Realisten" der kirchenfernste sein, gleichzeitig auch der mit dem stärksten Sexualtrieb, welcher zwar meist kultiviert und/oder gebändigt in die Texte eingeht, unter der harmlosen Oberfläche aber oft ganz kräftig rumort. Lassen wir Storm doch selber zu Wort kommen:

Storm über sich: Erzogen wurde wenig an mir; aber die Luft des (Eltern-)Hauses war gesund; von Religion, oder Christenthum habe ich nie reden hören; ein einzelnes Mal gingen meine Mutter oder Großmutter wohl zur Kirche, oft war es nicht; mein Vater ging gar nicht, auch von mir wurde es nicht verlangt. So stehe ich dem sehr unbefangen gegenüber; ich habe durchaus keinen Glauben aus der Kindheit her, weiß also auch in dieser Beziehung nichts von Entwicklungskämpfen; ich staune nur mitunter, wie man Werth darauf legen kann, ob jemand über Urgrund u. Endzweck der Dinge Dieß oder Jenes glaubt oder nicht glaubt.
...
Ich bin eine stark sinnliche leidenschaftliche Natur: die Zurückhaltung in meinen Schriften (in den Gedichten ist sie nicht so vorhanden) beruht wohl zum Teil auf dem mir eigenen Drange nach Verinnerlichung. Sie werden die Worte "Liebe", "Kuß" etc fast gar nicht in meinen Schriften finden.
Aus einem Brief an den österreichischen Literaturkritiker Emil Kuh in Wien, 13.August 1873 ("Theodor Storms Welt in Bildern. Eine Bildbiographie", Heide in Holstein 1987, S.18 und 20)

 

In der Novelle klingen unterschiedliche Themen an: ein Hauptthema ist der Widerspruch zwischen dem als richtig erkannten irdischen Weg der beiden jungen Hauptpersonen Josias und Renate, und dem vom Vater des Josias geforderten kirchlichen Weg und dem Verzicht auf Renate, die Tochter des Hofbauern.

Josias wird damit schuldig an zwei Leben: an seinem und an Renates Leben. Ein Happy-End kann nicht stattfinden: Storm läßt die Geschichte an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit spielen, und orts- und zeitgebunden haben die jungen Leute keine Möglichkeit, hier auszubrechen: zwar wird Renate als die souveränere Gestalt charakterisiert, die sich von derlei Gebundenheit lösen könnte, aber Josias kann in seiner sozialen und zeitlichen Gebundenheit diesen Schritt nicht tun. Allerdings sieht er im Alter seinen Fehler und damit seine Schuld ein. Vor dieser Erkenntnis war er ein Gehorchender, der einer Schuld ausgewichen ist, nach der Erkenntnis fühlt er sich schuldig, ohne natürlich es tatsächlich zu sein: genaugenommen ist er selber auch ein Opfer (der Kirche, der Moral, der Umwelt - wie man will).

Zeitbedingt konnte Josias sich von seinem dem Vater gegebenen Versprechen nicht freimachen, letztlich ist er ein Opfer der lutherischen Religion.

Dass alles falsch war, dass Renate ein "Engel", keine Hexe ist, erlebt Josias zweimal: als Jugendlicher in der Kirche und als alter Mann in Ostenfeld, als der "Engel" seiner Jugend wieder zu ihm tritt. Hier sich geirrt zu haben rechnet sich Josias nun selber als Schuld an und hofft auf Vergebung.

Der Hexenwahn wird im Text schonungslos klar gemacht:
a) die hexenhafte "Mutter Pocksasch" schimpft über die Hexe von damals, kann aber auf Nachfragen nichts negatives, nichts konkretes über diese sagen. Sie habe halt "Düwelswark" gemacht.
b) die Realität wird von den Abergläubischen im Verlauf der Zeit so zurechtgedreht, wie sie es brauchen: das graue Pferd der Renate wird zum schwarzen Pferd.
c) der Aberglaube ist nicht von vornherein da, sondern wird geschürt: teils aus Neid, teils aus Rache.
d) Petrus Goldschmidt, einer der unangenehmsten Aufhetzer, wird vollkommen demontiert: er sorgt für die Wiederbelebung der Hexenjagd, später wird aber nebenbei erwähnt, dass er als Schankwirt endete. Die Auseinandersetzung mit dem Teufel ist für Goldschmidt nur eine Möglichkeit, seine eigenen Widersprüche auf Kosten anderer zu verbergen.

In diesem Text steckt also eine sehr subtile und trotzdem radikale Kritik an kirchlichen Auswüchsen. Dass Storm atheistische, auch nihilistische Ansätze zeigt, ist für gründliche Leser nicht zu übersehen und macht mit den immer noch aktuellen Reiz seiner Bücher aus.

Ein zweites Hauptthema Storms ist immer die Erotik. Auch hier darf man keinen platten Oberflächensex erwarten, sondern muss ein Sensorium für Zwischentöne und das Brodeln unter der Oberfläche haben - sapienti sat.

Diese zwei Kernthemen werden Storm noch lange zum vielgelesenen Schriftsteller machen.

 

Schwabstedt, hier spielt Storms Novelle
Schwabstedt
Kirchspielkrug, Kirche und Treene-Fluß: Schauplatz der Novelle "Renate". Aquarellierte Zeichnung von Julius Fürst. Aus: "Theodor Storms Welt in Bildern. Eine Bildbiographie", Heide in Holstein 1987, S.147


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Gestaltet von Béla Hassforther. Letzte Änderung: 06.10.2003
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