aus: Herlinde Koelbl, "Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen.", Fotografien und Gespräche, München 1998.
Literarische Einflüsse:
"Ich glaube zum Beispiel, daß Arno Schmidt mein Schreiben verändert hat. Daß er mir einen Blick auf die Logik des Schreibens gegeben hat, der vorher für mich nicht existierte. Ich glaube, daß die Beschäftigung mit Kafka-Texten Folgen für mich hatte, ohne daß ich Ihnen vorrechnen könnte, worin diese Folgen bestehen."(S.17)
Das Produkt ist intelligenter als der Produzent:
"Ich lese manchmal Texte von mir und komme zu dem Schluß: Eigentlich sind diese Texte intelligenter, als ich es bin. Und ich frage mich, wie das möglich ist - ich habe sie doch geschrieben, es war kein Dritter in dem Geschäft mit dabei."(S.17)
[Diese Erfahrung, etwas zu machen, für das ich mich eigentlich gar nicht fähig halte, kenne ich auch - gerade auch beim Malen, wo ich mir bei den fertigen Bildern Gedanken mache, was sie bedeuten, und oft vom Gehalt überrascht bin.]
Über das Handwerk des Schreibens, über die Arbeit am Computer:
"Ich habe ein Problem, wenn ich etwas ändern möchte: Natürlich ändert es sich am Computer leichter, da schreibst du statt dem, was da steht, das, was du willst - und schon ist es sauber und in Ordnung. Aber man kann hinterher nicht mehr sehen, wie es vorher war. Vielleicht möchte ich die Änderung aber wieder rückgängig machen, vielleicht nur einen Teil davon. Vielleicht war in der ursprünglichen Fassung irgend etwas doch besser als jetzt, und wenn ich das im Computer geändert habe, ist es verschwunden. Vielleicht gibt es irgendwelche raffinierten Dinger, bei denen das nicht so ist, aber ich habe so etwas nicht. Wenn ich mit der Hand ändere, dann ist da nur ein dünner Strich durch, und ich kann sehen, wie es einmal war. Das verstehe übrigens auch unter "einem Text näher zu sein".(S.18)
Selten habe ich so klar einen der immer wieder angeführten Vorteile des Schreibens am PC als tatsächlichen Nachteil dargestellt gesehen. Verblüffend.
Ist Schreiben Arbeit?
"Ich hätte es zu gerne, wenn da plötlich etwas über mich käme und irgendwie auf wunderbare Weise auf dem Papier stünde. Ich habe aber die dumme Erfahrung gemacht, daß nichts aufs Papier kommt, was ich nicht dorthin schreibe, nicht eine Zeile. Die meisten Zeilen machen Mühe. Die meisten Zeilen sind nicht genial. Ich komme nicht aus dem Staunen heraus, was für ein weiter Weg es ist, von dem Satz, der in meinem Kopf ist, bis zu dem Satz, der auf dem Papier steht."(S.18)
Becker ist in fortgeschrittenen Alter noch einmal Vater geworden:
"Erstens ist so ein Kind ein totales Antidepressivum. (...) Uns beiden, also meiner Frau und mir, ist klargeworden, daß dieses Kind alles andere als eine Mühe ist, es ist eher ein Öfchen, an dem wir uns dauernd wärmen, das ist eine tolle Geschichte in unserem Leben."(S.19)
Hat er ein jüdisches Selbstverständnis?
"Ich würde mit Ihnen zunächst über die Frage streiten, ob ich Jude bin oder nicht. Daß meine Eltern Juden waren, steht ganz außer Frage. Nur: Ich finde es spannend zu fragen, ob Leute, deren Eltern Juden sind, wirklich auch selbst Juden sind. Dieser Meinung waren zum Beispiel die Autoren der Nürnberger Rassengesetzgebung, dieser Meinung sind auch orthodoxe Juden Aber ich wünschte mir, daß ich mir das selber aussuchen könnte. Es ist natürlich nicht so, daß ich das verbergen will. Gucken Sie sich meine Bücher an, die sind voll davon. Aber ich möchte mir aussuchen dürfen, wer ich bin. Ich weiß, daß man das nur in Maßen kann und daß man, ob man will oder nicht, auch derjenige ist, für den die anderen einen halten. Davor gibt es keine Rettung. Ich bin mir bewußt, daß das, was Sie Jude-Sein nennen, also jüdische Kultur, in hunderterlei Beziehung für mich eine Rolle gespielt hat.(S.20)
Warum ist Jurek Becker aus der DDR weggegangen?
Daß ich aus der DDR weggegangen bin, hatte, auch wenn sie das wundern wird, weniger politische als private Gründe. Damit meine ich nicht irgendeine Frauengeschichte. Ich meine das Verhältnis zu meiner Arbeit. Ich war in der DDR in der letzten Zeit sehr aufgeregt und habe nur noch reagiert. Und mein Schreiben glich einem aufgeregten Bellen. Aber das entsprach nicht meinem Vorstellungen von Literatur, ich mußte mir die Frage stellen, ob Schriftsteller zu sein dasselbe ist, wie Widerstandskämpfer zu sein. Und es ist nicht dasselbe.(S.20)